Birgit Unterholzner
Die Schnabelfrau

Else liegt nackt und starrt in die Dunkelheit. Das Fenster steht offen. Sie zählt vorbeifahrende Autos. Das Atmen fällt schwer, das Tuch unter ihrem Rücken ist feucht. Die Hitze ist nicht auszuhalten. Nicht einmal nachts fällt die Temperatur.
Sie kommt auf die Idee, ein Laken ins Tiefkühlfach zu legen. Es würde Erleichterung schaffen. Später, unter ihrer Haut.
Else betet um einen Luftzug.
Kurz darauf wirft sie sich aus dem Bett, holt das Laken aus dem Schrank und stürzt in die Küche. Wasser, denkt sie, ich muss Wasser trinken. Else kippt ein Glas in den Mund und dann noch eines. Flüssiges rinnt über den Hals, zwischen die Brüste, ein letzter Rest versickert in der Nabelhöhle.
Sie taumelt zurück ins Schlafzimmer und versucht zu lesen. Es wird dauern, bis das Tuch abgekühlt ist. Zwischen Speiseeis und Seezungenfilets hat sie es eingeklemmt, an seinen Geruch mag sie nicht denken. Vom Bauch rollt sie sich in die Seitenlage, von dort auf den Rücken, vom Rücken auf die andere Seite, sie blättert um und legt das Buch weg. In einer Nacht, in der die Luft Gewicht hat und auf dem Körper lastet, kann niemand lesen.
Bilder blitzen auf, kurz und leuchtend, um gleich im Nichts zu verschwinden. Von weit her vernimmt Else Stimmen und Lachen. Ein Gedanke, angerissen, ein zweiter, unfertig, ein paar Splitter, sie kommen, bündeln und verlieren sich.
Else betet, dass das Ziehen im Kopf nachlässt.
Auf keinen Fall wird sie hingehen.
Else wälzt sich. Wühlt im Kissen.
Vielleicht würde sie tagsüber schlafen können. Aber sie weiß, dass sie sich betrügt.
Hoffnungen?
Else winkelt die Beine an und schiebt sich auf dem französischen Bett im Kreis herum. Über ihren Kopf marschieren Armeen von Holzstelzengängern, Tausende eilen im Gleichschritt, sie vernimmt ihre Schläge und eine Trommel. Bleibälle rasen auf sie zu, Else hebt die Arme, fuchtelt umher, will sie abwehren. Die Sonne erbarmt sich, Blei schmilzt und tropft in eine grüne Iris. Zukunftsgebilde und ein metallener Streifen am Horizont.
Mit offenen Augen schlafen. Das wäre eine Erfindung. Wenn ihr das gelänge. Nichts könnte sie mehr aus der Bahn werfen. Aber die wachen Stunden hinterlassen Schatten und Vertiefungen im Gesicht. Ein unmerkliches Zittern im Körper.
Natürlich wird sie nicht hingehen.
Sagt einfach, bis morgen. Als ob er Entscheidungen treffen könnte. Sie hat ihm nicht den geringsten Anlass gegeben zu glauben, dass sie wiederkommt.
Else dreht und windet sich, bis sie sich von der Matratze stemmt. Noch zwei Stunden, dann muss sie aufstehen. Sie sieht die Abdrücke auf dem Lager, die Spuren ihrer Unruhe, sie reißt das Leintuch heraus, Was willst du eigentlich, Else? Manchmal führt sie Selbstgespräche, sie hat lang alleine gelebt.
Schmutzwäsche quillt aus einem Stoffsack, täglich frisches Bettzeug, andauernd muss sie die Klamotten wechseln. Ihren Geruch erträgt sie nicht. Sie steigt in die Wanne, kaltes Wasser prallt auf die Stirn, auf die Schultern, sie hält das Gesicht in den Duschstrahl. Else bleibt streng mit sich. Disziplin und Verstand sind ihre Waffen. Else beobachtet sich im Spiegel, beiläufig streift ihre Hand die Schenkel, den Bauch, die Brust. Sie ist nicht mehr zwanzig, aber mit ihrer Figur zufrieden.
Während sie sich mit einem Handtuch abrubbelt, lässt sie alles Revue passieren.
Else wollte sich die Beine vertreten. Sie wartete auf den Abend. Manchmal streicht zu dieser Zeit ein Wind über die Stadt und lässt die Hitzegeplagten aufatmen. Gestern hatte sie Glück, der Wind aus dem Tal ließ sie nicht im Stich. Else fühlte die Erleichterung im Nacken, unter den Armen, und wie die Luft in ihr Hemd fuhr.
Sie spazierte zum Fluss hinunter, Verdorrtes und Staubiges an seinen Ufern. Gräser und Blätter und Bäume, die Landschaft hatte einen braunen Anstrich. Seit Monaten kein Regen. Nicht ein Tropfen.
Dort, wo sie immer umkehrte, ging sie gestern weiter, sie ließ sich von den Menschen treiben, die aus ihren Behausungen gekrochen waren. Am Museum und an den Hi-Fi-Auslagen vorbei, ziellos und ohne Vorstellung, was sie mit diesen Abendstunden anfangen wollte. Beinahe genoss sie es, nichts zu wollen, denn immer hat Else Ziele und immer will sie irgendetwas.
Else bürstet, sie massiert das Öl in ihre Haut, kreisende Bewegungen, von den Füßen zum Herzen hin. Die Körper reden mit uns, Else weiß das und gibt auf ihren Acht. Die Nächte sind zu warm, ohne den heilsamen Schlaf, ohne das Abdriften zehren sie an ihrer Kraft. Das Bürsten hat den Kreislauf angeregt. Nun fühlt sie sich wieder gewappnet.
Sie wird nicht hingehen.
Wahrscheinlich ist es dieser Sommer, der sie zermürbt, ihr den Willen nimmt. Nachrichtenagenturen berichten von Waldbränden in der Umgebung, die Häuser stehen schief, Giebel ächzen unter den Dächern, Türen und Fensterbalken verziehen sich, Tauben stürzen vom Himmel, verenden im aufgeweichten Teer, und wenn man genau hinhört, gibt die Stadt ein hohes verzweifeltes Summen von sich.
Vom Hauptplatz kamen Stimmen. Gelächter. Else sah einen Kreis von Schaulustigen, sie näherte sich, stellte sich auf Zehenspitzen, Eine Artistengruppe!, sie hatte davon gelesen.
Ein gefiedertes Mädchen stand reglos auf einem Würfel. Sie war von unten bis oben in Gold getaucht, das Weiß zwischen Augschlitzen ließ Leben erahnen. Münzenwerfer belohnte es mit einer viertel oder halben Drehung. Ein Mann stöckelte auf Stelzen durch die Menge, ließ Jonglierbälle kreisen oder die Knie einknicken, Leute stoben auseinander, er schnitt Grimassen. Else fragte sich, ob Grimassenschneiden gesund sei.
Aus dem Zelt trat eine Rothaarige, sie hatte eine Python im Genick liegen, ihren Körper umspannte ein gelbweißer Overall. Sie war älter als die anderen Artisten, die bemalten Augen wirkten müde. Schlange und Frau, zusammen glichen sie einem vielarmigen hässlichen Nesseltier. Else dachte daran, dass die Netzpython bis zu hundert Eier legt. Als einzige Schlange brütet sie selbst aus. Der Stelzengeher ließ die Bälle verschwinden, er fasste nach einem Stück Draht und reizte die Python. Sie bewegte sich, die Rothaarige wankte unter Wogen. Als er die Lippen schürzte, schnellte der Wurm ihm ins Gesicht. Das Publikum kreischte, der Mann sprang von den Stelzen und verbeugte sich. Als er sich aufrichtete, fielen seine Blicke auf Else. Er sah in ihre Augen. Minutenlang, schien ihr. Als wollte er sich ein Urteil bilden.
Unerwartet stieß er den Absatz seines Lederstiefels in den Asphalt, drehte sich um, im Vorbeigehen biss er dem Nesseltier in die Schulter. Die Rothaarige schenkte ihm ein erschöpftes Lächeln. Else ortete Narben unter der zerronnenen Schminke. Die beiden verschwanden Hand in Hand unter den Zeltplanen.
Else wollte sich eben auf den Heimweg machen, als die Leute pfiffen. Der Mann sprang nach vorne, um den Bauch hatte er einen Gurt. Ohne zu zögern, peilte er Else an, er zog sie aus der hinteren Reihe in die Mitte und forderte sie auf, seine Habe zu begutachten. Nein, Else wehrte ab, mit Messern hatte sie nichts am Hut. Der Mann griff nach ihrem Gelenk, dass es weh tat. Unentwegt starrte er sie an. Else musste wegschauen.
Daraufhin ließ er achtlos ihren Arm fallen und begann die Klingen zu wetzen.
Else fand es albern.
Eine Pappwand auf Rädern, dahinter schritt eine anmutige Gestalt, sie trug eine schnabelartige Maske, über ihren Körper floss dunkelrote Seide. Wahrscheinlich die Nesselfrau, Else konnte es nur vermuten, denn das Haar blieb unter der Haube verborgen.
Geben Sie mir Ihre Hand!
Da sich Else nicht rührte, nahm der Mann die Hand, drehte die Innenfläche nach oben, streifte ihr Hemd zurück und strich sanft am Arm herunter.
Elses Schultern lösten sich. Sie hatte eine trockene Kehle.
Sein Gesicht gab nichts preis.
Plötzlich hörte sie ein Schnappen. Der Mann drückte Kantiges gegen die Stelle, die er berührt hatte und ließ Else nicht aus den Augen. Sie spürte den Schmerz. Das Herz raste. Mit einem Mal wünschte sie, der Fremde zöge Silber durch ihr Fleisch.
Der Mann lächelte, einen Moment lang sah sie seine Zunge, den Ring. Er ließ sie los und sagte, Bis morgen. Als ob das selbstverständlich wäre.
Else drängte sich durch Menschen, Ellbögen und Hüften. Sie rannte gegen den Flusslauf, geriet außer Atem, sie schluckte Staub und trockenen Klee.
Zu Hause warf sie sich aufs Bett. Voller Sehnsucht nach Schlaf.
Aber die Nacht raubte ihn ihr und fühlte sich an wie ein trächtiges Tier.
Else hat sich inzwischen angezogen. Sie räumt Öl und Bürste in den Drahtkorb, macht Dinge, an die sie sich später nicht erinnert.
Else kauft ein, Else trinkt Tee und hört Nachrichten, Else erledigt Telefonate, schreibt den Artikel für die nächste Wochenausgabe, Die Ritalingesellschaft, Else kocht, isst, blättert in Tageszeitungen, Else legt sich mit offenen Augen hin, füttert die Katzen der Nachbarn, wo die immer hin müssen, Kilimanjaro, Mount Everest, Else duscht, schneidet Brote, Schnittlauch …
Irgendwann tritt Stille ein. Eine Stille, die aus den Wänden dringt, aus den Möbeln, aus dem herumstehenden Geschirr. Was willst du von ihm, Else spricht gegen die Lautlosigkeit an, nichts. Oder doch. Weniger Einsamkeit. Für kurze Zeit. Einen neuen Körper. Jemanden, der mit seinem Leben nicht haushält. Ein bisschen Gefahr. Erinnerung. Die Hoffnung auf einen späteren Herbst. Mach dich nicht lächerlich. Dein Herbst kommt sowieso. Die Voraussetzungen sind zu verschieden. Ein Stelzengeher. Ein Messerwerfer. Was hast du zu verlieren? Dein Marktwert sinkt, du wirst nicht jünger und schöner. Du solltest dich fragen, ob du glücklich bist. Deine Schwester behauptet, dein Lachen hat einen bitteren Unterton. Warum diese Abgeklärtheit? Kannst du dich nicht einmal vergessen, Else? Abrutschen. Wovor hast du Angst?
Else vernimmt ihr Echo. Die Räume sind spärlich eingerichtet. Sie hasst Überbordendes.
Sie möchte sich sein Bild herholen, den kahlen Schädel, die verworrenen Brauen, den Mund, Bewegungen, die auf Nachlässigkeit oder Hochmut schließen lassen.
Die Luft in der Wohnung steht.
Else wischt mit einem Geschirrtuch Tropfen von der Oberlippe. Sie zieht die Schublade auf, nimmt das Küchenmesser, legt Metall an die Stirn. Die Kühle ist angenehm. Sie blickt auf die Armbanduhr, vielleicht, wenn sie sich beeilt, sie probiert und verwirft ein halbes Dutzend Kleider, zu förmlich, zu unauffällig, zu aufreizend, zu sackig, bis sie sich für die einfache Variante entschließt, ein Top und die Bermuda.
Else hört die eigenen Schritte, als hätten sie nichts mit ihr zu tun, sie nimmt den Weg, der von der Haustür schnurgerade auf den Platz führt. Im Laufen zieht sie die Sandalen aus, hält sie an Riemen fest. Passanten mustern sie neugierig, wer wird es nach Dienstschluss so eilig haben und dazu barfuß. Else ist es egal.
Das Zelt steht da. Aber sonst nichts. Keine Vorstellung. Bummler und spielende Kinder. Else rutscht in ihre Sandalen, sie ist erleichtert, dass die Planen geblieben sind. Einen Moment lang ist Else unentschlossen. Was nun?
Rasch schlüpft sie in den Verschlag.
Der Mann sitzt mit dem Rücken zum Eingang. Er hat eine Holzbank zwischen den Beinen und den Kopf nach vorne gebeugt. Er scheint jemanden zu füttern. Else versucht ihren schnellen Herzschlag niederzukämpfen, leise zu sein, aber er hat sie bereits bemerkt.
Ich habe Sie erwartet.
Else errötet. Die Farbe klatscht von ihrem Gesicht auf das Dekolleté.
Es hat Ihnen gefallen, nicht wahr? Er dreht salopp und ausscherend Oberkörper und Bein über das Holz. Else hofft, dass im Zwielicht nichts von ihrer Befangenheit zu sehen ist. Sie schaut auf ihre Zehen, die ausgebreiteten Matten, nicht zu ihm hin, sie zweifelt, ob sie den Blick abwenden könnte.
Was machen Sie da?, fragt Else.
Der Mann greift hinter sich und setzt ein haariges Bündel auf seinem Waschbrettbauch ab. Ein Bein hat er angewinkelt, das andere ausgestreckt, mit einem Arm stützt er sich ab. Eine Zwergbeutelratte, sagt er. Else registriert die Fledermausohren, den nackten Schwanz und das rosa Maul. Seine Finger graben im Fell, das Vieh gibt einen gellen Laut von sich. Else denkt, es lacht mich aus.
Eine Unersättliche. Verschlingt Ungeziefer ohne zu kauen. Sie jagt nach Einbruch der Dunkelheit. Bei den letzten Worten starrt er Else wieder an.
Die Python!, wo ist die Python, sie könnte hier herumkriechen, mit einem Satz und einem verhaltenen Schrei springt Else auf die Bank.
Blitzschnell umfasst der Mann ihre Knie. Er hebt sein verwahrlostes Kinn und grinst, wovor fürchtet sich die Unnahbare?
Else ist ratlos. Wieso unnahbar? Was weiß der von ihrem Leben?
Sie möchte auf die Erde, doch der Mann hält ihre Beine umarmt. Hinter wuchernden Brauen, hinter Bartstoppeln und Verwerfungen entdeckt sie mit einem Mal seine weicheren Züge.
Der Mann nimmt Else hoch, vor einem Glaskasten lässt er sie herunter.
Die gespaltene Zunge der Python schnellt vor und zurück. Unter ihren gelben Blicken erstirbt ein Strauß von Spinnenlilien.
Er hat jetzt ein Feuerzeug, hält die Flamme an die Handballen, schiebt die Finger durch, entzündet den Kerzenstumpf. Er holt Tabak und Zigarettenpapier aus der Hemdtasche. Bestimmt raucht er auf Lunge, denkt Else. Der Mann inhaliert tief und langsam. Dann legt er eine Binde um seinen Kopf, während er die Enden im Nacken verknotet, murmelt er, ich kann Feuer schlucken, wollen Sie, dass ich es Ihnen zeige?
Else kann sich nicht mehr zurückhalten. Warum geben Sie dermaßen an?
Warum sind Sie hier? Er lächelt, als würde er sich amüsieren.
Ja, warum? Was sollte das werden?
Else möchte raus. Weg von dem Trara. Sie wendet sich zum Gehen, da dreht er sie in seinen Arm.
Sie sollen sich vor nichts mehr fürchten, während er flüstert, streicht er ihr eine Strähne hinters Ohr.
Was meint er damit? Das heißt. Das wäre doch auch. Ein Ziel, wenn man so wollte. Das wäre ... Was, wenn sie abrutscht? Wegbricht? Die Übersicht verliert?
Else betet, dass das Ziehen im Kopf aufhört.
Inzwischen hat der Mann Seide aus einer Kiste geholt, die Maske setzt er ihr an den Kopf, der Schnabel ragt himmelwärts, Else glaubt, nur ein Zeltdach liegt zwischen mir und dem Himmel, und ich bin die Schnabelfrau.
Das Gewand ist ohne Schultern, die Ärmel laufen glockenförmig aus, er lässt das dunkelrote Meer über Elses Haut, den Rücken fluten, Else riecht beide Körper, wie sie gegen die Hitze anzuatmen versuchen, der Mann haucht ihr Worte ins Ohr.
Er nimmt eine Plastikdose, beginnt Schminke aufzutragen, er trachtet nach Perfektion, vielleicht ist er ihr ähnlicher, als sie angenommen hat, er verteilt das Porzellanweiß, Stirn, Nase, Hals, kniend betupft er ihre nackten Füße.
Mit einem Mal packt er Else, schiebt sie zurück, die Wirbelsäule stößt auf Hartes. Der Widerstand gibt nach, Else gerät ins Taumeln, der Mann tritt gegen Räder, gegen Pedale. Die Wand steht. Er tastet nach ihren Armen, scheuert sie hinauf, scheuert sie wund, mit Schnüren bindet er Gelenke fest. Hier, da, rühren Sie sich nicht von der Stelle!
Else hängt an den Haken, sie lässt sich alles gefallen.
Der Mann schaut sie mit weiten Augen an. Ein Messer schnappt auf, der Stahl drückt gegen ihr Brustbein, Else zuckt zur Seite, gleichzeitig kommt er näher mit seinem Mund, der Ring schlägt an die Zähne.
Lassen Sie mich Messer werfen, die Angst aus Ihrem Körper jagen.
Else schluckt, eine väterliche Stimme tönt von der Kindheit herauf, Spiel nicht mit Messern, du könntest dich verletzen.
Der Zirkusmann streichelt Else, lässt sich Zeit dabei, er führt eine Hand nach unten zwischen ihre Beine, er sieht sie unentwegt an. Else erinnert sich an das vernarbte halbe Gesicht, ein flüchtendes Bild. Sie fühlt das Brennen, die Erregung und seinen Körper, wie er sich an ihren presst. Es gibt keine Geschichte, keinen Anfang, kein Ende, nur Umrisse, ein grellweißes Licht, das Hier und Jetzt.
Der Mann liebkost und benetzt die Finger, die Kuppen, wahrscheinlich hat er eine Hand befreit, denkt sie, Schwerelosigkeit kommt über Else, rote Wellen spülen sie fort, sie sieht das Ufer nicht mehr ... bis sie begreift, dass der Mann Silber durch ihre Fingerspitzen zieht.
Else schreit.
Der Mann bindet sie augenblicklich los. Sie wollten es! Es hat Sie fasziniert.
Else schreit.
Dann eben nicht, der Mann geht rückwärts, seine Sohlen streifen die Binsenmatten. Er holt aus, erobert sich den Raum, schleudert das Springmesser gegen die Rollwand, wo es vibriert und verstummt. In spielerischer Ergebung nimmt er die Hände hoch. Schade, sagt er, nie werden Sie es erfahren.
Was ...? Ihre Stimme erstickt.
Das Singen der Messer, raunt er.
Elses Unterlippe zittert. Der Mann verlässt den Verschlag.
Wütend zerrt sie die Maske herunter, reißt sich das Gewand vom Leib, es wäre ihr Finale gewesen, Fortgehen konnte sie immer am besten, er lässt ihr nicht den kleinsten Triumph.
Alles um sie beginnt zu flimmern, sie rennt blind durch Tuchbahnen, draußen stolpert sie über ein rollschuhlaufendes Kind. Else murmelt, entschuldige. Der Himmel ist tiefschwarz und ohne Wind. Sie fühlt das Zerrinnen der Schminke. Das Kind und Else stehen auf, bewegen sich in eine Richtung. Zur nächsten Lichtquelle hin. Else denkt, was macht ein Kind um diese Uhrzeit, bis sie jemanden rufen hört, Kati, komm!
Kati ist brav, kehrt um, Kati hört auf ihren Vater.
Else schaut zu Boden, sieht Geschwungenes und Zerrupftes. Eine Taube klebt blutig an der Teerdecke fest.
Else schließt die Augen, legt den Kopf zurück.
Deutlich vernimmt sie das hohe verzweifelte Summen, das die Stadt seit Tagen, seit Wochen verrückt macht.